Nettes vom Thunfisch

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The Doctor

Dauerposter....
Motorrad
Triumph Speed Triple 1200 RS, Tiger 1200 GTpro, Panigale 959
Modelljahr
2021
Die Schuld an diesem Wahnsinnsmanöver konnte ich niemandem geben außer mir selbst. Zur Hölle, was für ein unbeabsichtigter Stunt! Direkt vor den Augen von einem Haufen Touristen vor dem Parlament in Wien. Um den „Haufen“ zu konkretisieren: Zum Verstauen der Menge hätte man mindestens vier große Autobusse gebraucht. Also, da war schon was los, da gab es Publikum, da machte es Sinn, die 1100er-Aprilia forsch röhrend aus dem Radius zu ziehen. Und eigentlich war ich ja bestens vorbereitet. Ich beherrschte die Rechtskurve vor dem Parlament im Schlaf, wie man so sagt, und ich hatte einen Mörderbock unter mir: Aprilia Tuono V4 1100 RR!
Natürlich leitete ich das Manöver nicht in der rechten Spur ein, wo es immer wieder zu gripmordenden Verunreinigungen durch äpfelnde Fiakerpferde kommt, und auch nicht in der linken, die zwar im Sinne des Spektakels ideal wäre, weil man nahe an den Touristen ist, aber im Falle des Kontrollverlustes halt deutlich weniger Spielraum bietet als die mittlere. Es war alles wohlüberlegt. Fast alles. Denn womit ich überhaupt nicht gerechnet hatte, war das Zusammenspiel von Traction-Control und Wheelie-Control, die ich deaktiviert hatte. Ich meine, ein wildes Viech wie die nominell 175 PS starke Aprilia Tuono V4 1100 RR darf doch nicht seiner natürlichen Neigung, das Vorderrad stolz in die Luft zu recken, beraubt werden! So sehe ich das im Wesentlichen auch nach dem Test, aber meine ursprüngliche Annahme, dass die in der nicht sonderlich gripreichen Parlamentskurve auslösende Traction-Control die Motorleistung zurücknehmen würde, entpuppte sich als großer Irrtum.


Ist der Thunfisch eine Abrülla?

Seit dem ersten Erscheinen der RSV Mille (1998) war es nahe liegend „Abrülla“ zu sagen. Schon der damalige V2 hatte nämlich einen Mörderklang, der nicht selten durch relativ offene Töpfe noch zusätzlich aufgewertet wurde. Die Mille damals war ein echter Knaller, der in der schnellen Welt für Aufsehen sorgte, aber die Absicht, die 916er- bzw. die 996er-Ducati auf der Rennstrecke in Bedrängnis zu bringen, scheiterte daran, dass es kaum möglich war, den V2 der Mille nennenswert zu tunen. Wer genug Kohle hatte, konnte den L2 der Duc bis auf Superbike-WM-Niveau hochrüsten und die Abrülla mörderisch herbrennen. Dafür aber knockte Aprilia 2002 mit der ersten Tuono nicht nur Ducati, sondern auch alle anderen Naked-Bike-Hersteller gnadenlos aus.

Was war das für ein göttlicher Wahnsinn! Sie haben einfach der Mille den Großteil der Verkleidung runtergerissen und die Holmstummel gegen einen AMA-Superbike-Lenker getauscht. Das war richtungsweisend. Kein anderes Naked-Bike konnte da auch nur ansatzweise mithalten. Die Aprilia Tuono war das erste nackte Superbike des Serienbaus und auf der Rennstrecke eine Macht. Unfassbar, was das Eisen im Pannonischen Meer – dem bevorzugten Ring der Ost-Österreicher – alles fraß. So entstand die Bezeichnung „Thunfisch“. Obwohl „Tuono“ korrekt übersetzt selbstverständlich „Donner“ bedeutet.


Achtstufige Traction-Control funktioniert irre gut

Aber zurück in die Parlamentskurve: Ich durfte davon ausgehen, dass der laut PS-Prüfstand mit 172 PS und 117 Nm gesegnete Motor der Aprilia Tuono V4 1100 RR die 190er-Walze mit dem Pirelli Diablo Rosso Corsa II bei beherztem Gaseinsatz in leichter Schräglage voll durchreißen würde. Normalerweise eine Aktion, bei der ich etwas Muffensausen gehabt hätte, aber im Vertrauen, dass die Traction-Control die Situation entschärfen würde, nietete ich entspannt ein.

Man muss ja Aprilia ein großes Lob für die elektronischen Assistenzsysteme aussprechen. Die achtstufige Traction-Control funktioniert irre gut, greift je nach gewählter Stufe relativ früh bis sehr spät ein und regelt ruckfrei sanft und sehr effektiv. Für mich persönlich war Level 3 am besten. Weltklasse ist, dass man den Level während der Fahrt aufwandlos ändern kann – ohne die Hände vom Lenker nehmen zu müssen. Auch die dreistufige Wheelie-Control der Aprilia Tuono V4 1100 RR arbeitet hervorragend, doch wie oben schon erwähnt, war sie jetzt im Off-Modus, da mir das innerstädtische Hinterrad-Fahren viel bedeutet. An der Ampel die Abrülla in die Galerie zu reißen, muss sein! Es gehört meiner Meinung nach zur artgerechten Haltung des scharfen Thunfisches. Um es in der etwas ungenauen Diktion der Umgangssprache zu sagen: „Eine Tuono ist kein Roller nicht.“


Der Thunfisch zeigte schräg zum Himmel

Hmm. Da muss ich jetzt kurz abschweifen: Von Roller kam mein quirliges Hirn nämlich blitzartig auf Teufelsroller, also scharf eingelegten Hering. Und da fiel mir eine kleine Episode zum Thunfisch ein. Ein besorgter Leser schrieb mir vor rund zehn Jahren, dass er jetzt schon das dritte Mal mit seiner Aprilia Tuono gestürzt wäre und dass er offensichtlich das nackte Superbike einfach nicht in den Griff kriegen würde. Seine glasklare Ursachenanalyse führte ihn zu folgendem Ergebnis: „Die Maschine muss des Teufels sein!“ Exzellent! Ich antwortete damals mit einem Zitat von Ursi, der schnellsten Moped-Postlerin in der Schweiz: „Der Thunfisch ist a priliantes Eisen.“ Und dann fügte ich noch hinzu: „Satan steckt – wenn überhaupt – nur in öffentlichen Verkehrsmitteln.“

Jedenfalls nietete ich jetzt in der Erwartung ein, dass der unglaublich potente und wahnsinnig schön klingende 1100er-V4 der 190er-Walze nahezu ansatzlos den Garaus machen würde und dass dann die Elektronik gerade so viel Leistung zurücknehmen würde, dass ich nach einem kleinen Rutscher forsch durch den Radius ziehen könnte. Und nach dem Aufrichten wollte ich elegant in die Galerie wechseln. So der Plan. Tatsächlich war es dann so: Der Diablo Rosso Corsa II hatte so viel Grip, dass er den engagierten Gaseinsatz ohne zu rutschen auf den Asphalt brachte. Das hatte zur Folge, dass die Traction-Control nicht eingriff und die Motorleistung nicht reduzierte. Und das wiederum führte dazu, dass die Aprilia Tuono V4 1100 RR ungestüm vorne aufstieg und schräg in Richtung Himmel ragte.


Magic Jo hätte diesen Move forciert

Die unerwartete Galerie in Schräglage überraschte mich natürlich voll, aber ich wurde nicht panisch. Zwar drehte es mir wegen des unerbittlichen Gesetzes der Fliehkraft den Lenker nach außen, aber das Hinterrad zeigte keine Tendenz zum Wobbeln, sondern zog die Fuhre souverän in der mittleren Spur an den Touristen mit den weit aufgerissenen Augen vorbei. Herrlich! Ein Meister wie Magic Jo (Sie erinnern sich vielleicht an die Gardasee-Story mit Graf Seitzmo und dem schrecklichen Sven im Frühjahr) hätte noch etwas Gas nachgelegt und die Aprilia Tuono V4 1100 RR in der Längsachse spektakulär weiter gedreht, ehe er sie ähnlich einem Beinahe-Highsider wieder abgefangen und sicher gelandet hätte, aber meine Wenigkeit war einfach saufroh, dass der Thunfisch trotz des schrägen Wheelies stabil blieb und nichts Hinterfotziges im Sinn hatte.

Göttlich! Keine Frage, meine Pumpe raste wie das Alvin-Lee-Gitarrensolo von „Going Home“, aber im Sinne des belebenden Adrenalins und nicht der Schockstarre. Alles bestens. Allerdings wurde mir eines klar: Wenn der Asphalt so viel Grip hat, dass die Traction-Control nicht auslöst und den Motor nicht knebelt, kann die Aprilia Tuono V4 1100 RR auch in der Kurve vorne abheben, sofern man so klug bzw. so deppert war, die Wheelie-Control zu deaktivieren. Als dann beim Burgtheater mein Herz wieder ganz normal steppte, lächelte ich glückselig unter dem Helm, tätschelte dem Thunfisch den Tank und sagte: „Du bist wirklich ein ausgezucktes Viech. Ich liebe dich!“


Gebückte sind nur am Ring im Vorteil

Hat man das außerordentliche Glück auf einer Aprilia Tuono V4 1100 RR zu sitzen, muss man sich im freien Land vor nichts und niemandem fürchten. „Unterlegenes Material“ kann allerdings nicht als Ausrede herhalten, sollte man geledert haben. Selbst bei harten Kämpfen in der Wahnsinnszone hat die nackte Abrülla mit dem Mörder-V4 nicht nur genügend Leistung, sondern auch genügend Reserven im Fahrwerk und schont die geistigen und körperlichen Ressourcen des Piloten.

Da können Gebückte gleich abschwingen. Man sitzt auf der Aprilia Tuono V4 1100 RR viel entspannter, hat mehr Überblick, mehr Bewegungsfreiheit – und außerdem kann man über die Lenkstange ohne Kraftaufwand mehr Druck ausüben. Vollkommen lockeres Herbrennen, wie man so sagt. Und selbst auf der Rennstrecke sind Gebückte nicht davor gefeit, gefressen zu werden. Sitzen zwei schnelle, gleichwertige Piloten auf Tuono 1100 RR und RSV4 RR zum Beispiel, wird der Supersportler auf jeder GP-würdigen Rennstrecke deutlich vorne sein, aber in meiner fahrtechnischen Liga ist das Match nicht ganz so eindeutig. (Ich halte mich ja seit Jahren an den Satz des Doping-Gegners Franz Kupalsky: „Ich bin immer sauber geblieben. Ich verzichte sogar auf die leistungsverfälschendste aller Maßnahmen: das Üben!“).

Zwar kann ich mit dem Superbike am Kurveneingang der Aprilia Tuono V4 1100 RR die Grenzen aufzeigen, weil ich durch die Holmlenker und den höheren Sitz der RSV das Vorderrad klarer spüre und weil die Maschine leichter einlenkt, aber sonst bin ich mit dem Thunfisch voll dabei. Durch die auf der Rennstrecke sehr sinnvoll einzusetzende und großartig funktionierende Wheelie-Control (Stufe 1 – das Vorderrad hebt wenige Zentimeter ab) kann ich mörderisch Feuer geben und muss keine Kapazität für die dritte Dimension verschwenden (also das Fahren in der Höhe).

In Verbindung mit der ebenfalls fantastisch werkelnden Traction-Control der Aprilia Tuono V4 1100 RR kann ich am Kurvenausgang einnieten wie der Räuberhauptmann im Vollrausch. Ja, und wenn ich dann die Gänge mittels butterweichen, aber superpräzisen Schaltautomaten bei Vollgas durchreiße, ist das etwas vom Besten, das man beim Motorradfahren erleben kann. Unfassbar herrlich! Dieses heisere Brüllen des V4 in der 10.000er-Region geht tief unter die Haut. Ist vielleicht der charismatischste Sound des Serienbaus derzeit.


Factory-Thunfisch mit Öhlins!

Die Aprilia Tuono V4 1100 RR mit dem Sachs-Fahrwerk hat mich persönlich richtig überzeugt. Brachial-Racern wird das Grundsetting – vor allem in der Gabel – wahrscheinlich etwas zu weich sein, aber ich kam sehr gut damit zurecht. Auf der Rennstrecke suche ich ja eher nach der runden Linie als nach dem spätesten Brems- und dem frühesten Beschleunigungspunkt. Je ruckfreier ich bei vollem Druck durch die Runde komme, desto größer ist die Euphorie, die in mir entsteht. Mit der RR gelang mir das so wunderbar, dass ich richtig zermürbt war, als der Test ein Ende fand.

Die Tuono V4 1100 Factory bin ich noch nicht gefahren. Aber was man so hört, ist das Öhlins-Fahrwerk straffer, noch transparenter und daher auf der Rennstrecke der Knaller. Draußen im freien Land dürfte man aber mit den Sachs-Komponenten besser bestückt sein, weil auf schlechtem Asphalt etwas mehr Komfort nicht schadet – wobei die Aprilia Tuono V4 1100 RR sicher keine Komfortschaukel ist. Optisch ist der Factory-Thunfisch als Single-Seater mit Schweden-Gold und Werkslackierung in meinen Augen einfach in Führung. Zum Niederknien.


Universal-Sportler mit City-Manko

Der einzige Bereich, in dem mir die Aprilia Tuono V4 1100 RR nicht hundertprozentig taugte, war die City. Da ist mir zum Beispiel eine Speed Triple oder eine CB 1000 R eindeutig lieber. Nicht nur deshalb, weil ich mir auf den „analogen“ Maschinen niemals überlegen muss, mit welcher elektronischen Konfiguration ich gerade unterwegs bin, sondern vor allem, weil das Ride-by-Wire der Abrülla in den tiefsten Geschwindigkeitsbereichen (also bis 50 km/h) nicht perfekt arbeitet. Sobald man jenseits der 70 km/h ist, funktioniert die Motorsteuerung brillant, aber beim langsamen Dümpeln neigt der Thunfisch zum Ruckeln und verlangt manchmal nach dem Einsatz der Kupplung. Das ist natürlich Jammern auf hohem Niveau – man kann selbstverständlich mit der Tuono auch in der Stadt fahren –, aber so richtig harmonisch bewegt man sich damit im streng reglementierten Ballungsgebiet nicht. Sagen wir es so: Der Thunfisch fühlt sich im Pannonischen Meer halt viel wohler als in einem kleinen Aquarium. Wer kann ihm das verdenken?

Müsste ich mich jetzt für RR oder Factory entscheiden, hätte ich es nicht leicht. In Bezug auf das Charisma und den Stolz im Fahrerlager ist die Tuono V4 1100 Factory klar vorne, aber meinen Ansprüchen hat das Sachs-Fahrwerk vollauf genügt. Das war definitiv besser als ich. Außerdem bietet die Aprilia Tuono V4 1100 RR die Möglichkeit, die Fee mitzunehmen. Und ich finde es halt wirklich super, wenn ich beim harten, langen Beschleunigen von hinten spitze Schreie höre. Herrlich! Da freue ich mich dann schon aufs Absteigen. Niemand kann so finster schauen wie meine bezaubernde Fee – und die von Empörung getragene rhetorische Frage: „Was bist du denn für ein unfassbarer Trottel?!“ macht mich immer so glücklich.
 
Dieses magische Zweirad rechtfertigt zu vollen 100% Deinen hoch inspierenden poetischen Erguss!
 
Ich kenne Zonko noch aus der Zeit als er für den Reitwagen geschrieben hat und finde das er ein Verlust für diese Zeitschrift ist. . . .
Dafür profitiert jetzt die PS von seinem Schreibstil (y) wie dieser schöne Artikel eindrucksvoll beweist !
Den Reitwagen kann ich aber immer noch empfehlen ! ! !
 
Ich kenne Zonko noch aus der Zeit als er für den Reitwagen geschrieben hat und finde das er ein Verlust für diese Zeitschrift ist. . . .
Dafür profitiert jetzt die PS von seinem Schreibstil (y) wie dieser schöne Artikel eindrucksvoll beweist !
Den Reitwagen kann ich aber immer noch empfehlen ! ! !

Hi Made,
Volle Zustimmung von mir
.... Lese trotzdem den Reitwagen gerne und regelmäßig
 
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Ich habe den Zonko gestern auf der Bike Linz getroffen! Ein toller Typ!
 
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